Ein Gesprächs-Pingpong mit Generalmusikdirektor Simon Gaudenz
über das Motto der Spielzeit 2022.2023
 

Simon Gaudenz, Foto: Lucia Hunziker
Simon Gaudenz, Foto: Lucia Hunziker

»Schauen wir in unseren Alltag, sehen wir, wie sehr er von Regeln bestimmt ist, die meist mit Zahlen zu tun haben. Trotzdem können wir uns ein lebendiges Denken bewahren. In der (guten) Musik ist es genauso.«

SIMON GAUDENZ
 

Lieber Herr Gaudenz, wo fangen in der Musik die Zahlenspiele an?
Im ersten Takt.

Und was zählen Sie in Ihrem Musikeralltag am häufigsten?
In der Partituranalyse: wahrscheinlich Taktstrukturen. Aber so genau kann ich es nicht sagen.

Welche Bedeutung haben Zahlen im Alltag eines Musikers?
Sie begegnen ihm überall.

Wo am meisten?
Natürlich in den Noten: Rhythmus, Tonart, Tonhöhe, Tempo – alles ist bestimmt durch Zahlen.

Und wie wird Spiel daraus?
Durch Forschungsarbeit, Zahlen unterliegen ja nicht dem Zufallsprinzip. Kommt man ihnen näher, lässt sich mit ihnen spielen. Und sie vergessen machen.

Sind Sie selbst ein „Zahlenmensch“?
Nicht wirklich …

Eher ein Spieler?
Ja. Überall, wo ein spielerisches Element versteckt ist – das interessiert mich. Das Unplanbare bringt oft so wunderbare Situationen hervor.

»Überall, wo ein spielerisches Element versteckt ist – das interessiert mich. Das Unplanbare bringt oft so wunderbare Situationen hervor.«

 

10 ½ Monate dauert die Spielzeit der Jenaer Philharmonie. Wie viele Konzerte passen da rein?
Zählen wir die Chöre mit, mindestens 115.

Wie viele verschiedene Locations bespielt die Jenaer Philharmonie in ihrer Heimatstadt?
Auch hier ist nur eine Schätzung möglich, denn wir entdecken immer wieder neue Konzertorte. Sagen wir mal rund 20.

Und wie viele verschiedene Formate gibt es zu erleben?
20 ist eine schöne Zahl, sie passt auch hier ziemlich gut.

Das ungewöhnlichste?
Zum Beispiel 360°.

360° – was ist da so besonders?
Die räumlichen Grenzen zwischen Orchester und Publikum sind aufgehoben. Die Nähe zu den Musikerinnen und Musikern schafft eine besonders intensive Atmosphäre.

Keine Angst vor Nähe?
Im Gegenteil. Wir suchen nach der Emotion – „berührt werden“ kommt von „Berührung“.

Und was ist die größte Herausforderung beim Proben im 360 Grad-Modus?
Für mich: alle zu erreichen, ob mit oder ohne Blickkontakt.

Und für das Orchester?
Unter diesen akustisch sehr ungewöhnlichen Umständen zu interagieren.

Welches Werk der Spielzeit 2022.2023 bindet die meisten Musikerinnen und Musiker ein?
Mahlers 6. Sinfonie.

Wie viel Probenzeit braucht das Orchester zur Vorbereitung auf ein großes Sinfoniekonzert?
Im Falle der obigen Sinfonie 8 Tage. Die CD-Aufnahme mit eingeschlossen.

Worauf wird dabei am meisten Zeit verwendet?
Die Interpretation, danach richtet sich alles.

Und was braucht am meisten Konzentration?
Die Detailarbeit.

Was erfrischt am meisten?
Die Energie der Musikerinnen und Musiker beim Musizieren.

Und was ermüdet am meisten?
Mich oder die Musikerinnen und Musiker?

Zuerst Sie.
Die Musikerinnen und Musiker reden zu viel.

Oh. Und die Musikerinnen und Musiker?
In meinem Fall mutmaße ich: der Dirigent redet zu viel ...

Welche drei Eigenschaften schätzen Sie bei einem Musiker am meisten?
Kreativität, Neugierde und den Willen, sich immer weiterzuentwickeln.

Wie lange bereiten Sie persönlich sich auf ein großes Konzert vor?
Bleiben wir bei Mahler: rund ein halbes Jahr.

Wie viele Werke haben Sie parallel zu Hause auf dem Schreibtisch liegen?
Ungefähr zehn.

Wie „lernt“ man eine Partitur?
Das kann ich unmöglich kurz und knapp beschreiben. Aber es steckt Fleiß dahinter, das steht fest.

Was war die größte Musikerzahl, die Sie jemals unter Ihrer Leitung hatten – und bedeutet „Masse“ in der Musik immer auch „Klasse“?
Rund 250 – und zur zweiten Frage: eindeutig NEIN!

In welchem Stück?
Hermann Suters „Le Laudi“ mit drei fantastischen Chören aus verschiedenen Ländern.

Und die kleinste Besetzung?
Zwei.

Darf sich das Jenaer Publikum eigentlich wirklich in der übernächsten Spielzeit auf Mahlers „Sinfonie der Tausend“ (die 8.) freuen?
Aber ja, und wie!

Wird ein Orchesterwerk komplizierter, je mehr Musiker beteiligt sind?
Nicht unbedingt, manchmal wird es auch leichter.

Wieso das?
Weil der Zusammenklang vieler Instrumente eine Unschärfe hervorrufen kann, die bestimmte Farben und Übergänge erst ermöglicht.

In wie vielen verschiedenen Städten gastiert die Jenaer Philharmonie 2022.2023?
Rund 20. Zählt man wiederholte Konzerte mit, etwa 30.

Und wie viel Zeit verbringt das Orchester dafür – wenn alles plangemäß läuft – im Bus?
Zu viel. Wobei auch diese Zeit sinnvoll genutzt werden kann.

Womit?
Mitunter mit Gesprächen. Wenn es ums Künstlerische geht, kommt man schnell vom Hundertsten ins Tausendste.

Acht Stunden Anreise, zwei Stunden Konzert, acht Stunden Rückreise – warum macht man sowas?
Um mehreren hundert Menschen zwei Stunden Lebensfreude zu schenken.

Was, wenn auf einer kleinen Bühne am Gastspielort plötzlich alle überraschend dicht zusammenrücken müssen?
Flexibel bleiben – und an die vorhergehende Frage denken.

Lässt sich die musikalische Qualität eines Orchesters oder Interpreten in Zahlen bemessen?
Dazu müsste man Glückshormone und Tränen zählen können.

ZÄHLEN oder ERZÄHLEN – was hat im Konzert Priorität?
Was für eine Frage. Wer will etwas vorgerechnet bekommen?

Selbst bei Minimal Music?
Selbst da. Aber das Zählen sollte hier nicht vergessen werden.

Kann Musik eigentlich neutral sein?
Haha, Sie sprechen mich als Schweizer an! Ein klares Nein! Neutrale Musik wäre tot.

Wo hat sie ihre Grenzen?
Nur dort, wo sie, zum Beispiel aus religiösen Gründen, unerwünscht ist. Und selbst da zweifle ich. Ansonsten kann sich ein sensibler Mensch der Emotion der Musik eigentlich kaum entziehen.

»Wenn es besonders schön gespielt wird, kann jedes Instrument zu einem Liebling werden.«

 

Dreier- oder Vierer-Takte, Walzer oder Tango – wo fühlen Sie sich als Dirigent zu Hause?
Mag der Anteil auch noch so klein sein: Tanz gehört dazu.

Gibt es für Sie eine magische Zahl?
Ich liebe ungerade Zahlen.

Warum?
Sie sind geheimnisvoller, stellen mehr Fragen.

Sind Sie ein Freund von Symmetrien oder fasziniert Sie eher das Ungleichmäßige?
Der Tanz lebt natürlich auch von der Gleichmäßigkeit.

Das ist noch keine Antwort.
Also, trotz Widersprüchlichkeit: Gegensätze finde ich spannender.

88 Klaviertasten, 47 Harfensaiten, vier Geigensaiten oder ein einziges Bläser-Mundstück – womit fühlen Sie sich am wohlsten?
Mit rund achtzig Augenpaaren, deren Besitzerinnen und Besitzer ganz viele Saiten und Mundstücke fantastisch handhaben können.

Mit welchem Musiker im Orchester würden Sie am liebsten tauschen?
Mit niemandem.

Und mit welchem auf keinen Fall?
Siehe vorige Frage.

Kein bevorzugtes Instrument?
Ganz ehrlich: nein.

Auch kein ungeliebtes?
Wenn es besonders schön gespielt wird, kann jedes Instrument zu einem Liebling werden.

Sehr diplomatisch … Kommen wir zu einer Frage, die schon Goethe thematisiert hat: Was macht das Streichquartett zum musikalischen Ideal?
Die Klarheit.

Was verdoppelt sich im Doppelkonzert – außer natürlich die Zahl der Solisten?
Im besten Fall die Präsenz und der Ausdruck.

Und in Dutilleux’ 2. Sinfonie „Le Double“?
Die Farben, wir haben sie da im Großen und im Kleinen.

»Erst wenn wir die Zeit vergessen, kann die musikalische Reise beginnen.«

 

Wenn Sie eine Zeitreise gewinnen würden – welches Jahrhundert würde Sie locken?
Paris und Wien um die Jahrhundertwende 1900.

Um wen zu treffen?
Wenig überraschend: Gustav Mahler.

Das war klar! Wen noch?
Claude Debussy, vielleicht Maurice Ravel. Karl Kraus und Jean Cocteau dürfen eigentlich auch nicht fehlen.

Warum?
Weil ihre Ironie, der scharfe satirische Blick auf die oft triste Gegenwart die tiefsten Einblicke zulässt.

Was sollte man in der Musik auf keinen Fall zählen oder gar berechnen?
Die Zeit. Erst wenn wir sie vergessen, kann die musikalische Reise beginnen.

Ihr Verhältnis zur Improvisation?
Ich liebe sie, würde selbst aber gerne über das Epigonale hinauskommen.

»Zahlenspiele hören in der Musik oft da auf, wo die Emotion beginnt. Sie sind zwar strukturgebend anwesend, treten aber in den Hintergrund.«

 

Zählen Sie Schäfchen, um nach einem besonders gelungenen Konzert einschlafen zu können?
Tatsächlich höre ich dann gerne Musik.

Was denn?
Ich habe mal nach einer Aufführung von Mahlers „Auferstehungssinfonie“ die komplette „Matthäuspassion“ gehört – war danach allerdings genauso wach wie davor.

Und womit spielen Sie bevorzugt – jenseits der Musik?
Mit (Fuß)-Bällen und dem Würfel.

Besuchen Sie selbst Konzerte – und wenn ja: entspannt und mit Genuss?
Jaaa! Der Berufswunsch meines Vaters als Junge war, Konzerthörer zu werden. Kann ich gut nachvollziehen.

Was sind Ihre drei größten Wünsche für die Spielzeit 2022.2023 der Jenaer Philharmonie?
Die Menschen zu erreichen, verzaubern, irritieren, rühren, bewegen. VIELE Menschen zu erreichen. Einzigartige Erlebnisse zu schaffen.

Welche drei Werke stehen für die Zukunft auf ihrem Wunschzettel?
Die verrate ich nicht, aber sie haben mit der folgenden Frage zu tun.

Gibt es auch unerfüllbare Wünsche?
Immer. Nach diesen zu streben ist die Aufgabe des Künstlers.

Wo hören in der Musik die Zahlenspiele auf?
Oft da, wo die Emotion beginnt. Sie sind zwar strukturgebend anwesend, treten aber in den Hintergrund.

Gibt es Musik ohne Zahlen?
Nein. Aber sie sind nicht immer das Wichtigste.

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