Donnerstagskonzert № 2 | 19.10.2023

Eine literarisch-musikalische Performance für Daniil Charms

Die Spiel­zeit 2023.2024 der Jenaer Phil­har­mo­nie steht unter dem Motto „Wort­Spiele“, und Ste­fan Kurt, der ARTIST IN RESI­DENCE, ist Wort-Spieler, Schau-Spieler und pro­gramm­ge­stal­ten­der Rezi­ta­tor in einem. Und er ist ein hoch­mu­si­ka­li­scher Mensch. Das hat er nicht nur mit sei­nem Diri­gat in einem der nächs­ten „The­resa-Wolff“-Kri­mis unter Beweis gestellt. So, wie er am Abend für Daniil Charms und in Igor Stra­wins­kis „Geschichte vom Sol­da­ten“ agiert hat, war es ein gro­ßes Ver­gnü­gen, wie Wort und Musik zu einer lite­ra­risch-musi­ka­li­schen Per­for­mance ver­schmol­zen.

Die Gedichte von Daniil Charms sind keine Texte, die man schwarz auf weiß gedruckt nach Hause tragen und ins Bücher­regal stel­len könnte. Selbst wenn man es täte, müsste man gewär­tig sein, dass sie des Nachts zum Leben erwachen und ein Eigen­le­ben ent­fal­ten. Wenn man sie gegen das Fen­ster würfe, so Charms, würde das Glas bers­ten. Charms’ Gedichte haben etwas Zir­zen­si­sches, Akro­ba­ti­sches, Komö­dian­ti­sches und bedür­fen des Vor­trags. Den begann Stefan Kurt mit dem absurd-phi­lo­so­phi­schen „Wält“. Danach betrie­ben zwei Schlag­zeu­ger „Was­ser­spiele“ in und mit zwei Zink­wan­nen. Kom­po­niert hat sie Jörg Wid­mann im Jahr 2009. Sie ent­stam­men seinen „Dubai­ri­schen Tän­zen“. Wie Wort und Musik sich gegen­sei­tig in Span­nung hal­ten, zeigte Stefan Kurt mit „Es ist schwer etwas über Daniil Charms zu sagen“. Wie dieser Text und sie­ben kurze Sätze aus Kaba­lews­kis 1940 ent­stan­de­ner Suite „Die Kömö­dian­ten“ Wort und Musik in gera­dezu elek­tri­sie­ren­der Hoch­span­nung hiel­ten – das war außer­ge­wöhn­lich. Bereits an die­ser Stelle ent­stand der Ein­druck, als seien Texte und Musik für­ein­an­der bestimmt gewesen. So stim­mig hat­ten Ste­fan Kurt und Simon Gau­denz Charms’ lite­ra­ri­sche Fund­stü­cke und dazu pas­sende Musik aus­ge­wählt und arran­giert. Die Ins­tru­men­ta­lis­tin­nen und Ins­tru­men­ta­lis­ten der Jenaer Phil­har­mo­nie waren ganz in ihrem Ele­ment und über­zeug­ten durch rhyth­mi­sche Prä­zi­sion, Spiel­freude und einen außer­ge­wöhn­li­chen Reich­tum an Klang­far­ben. Ein geradezu genia­ler Ein­fall war es, den vor­der­grün­dig-humor­vol­len Prosa-Text „Wie ich gebo­ren wurde“ zwi­schen den „Torea­dor-Satz“ aus Rodion Schtsche­drins „Car­men-Suite“ und den 5. der „Zehn Mär­sche, um den Sieg zu ver­feh­len“ zu plat­zie­ren. Mau­ri­cio Kagel hatte sie 1979 kom­po­niert. Sein Gestus, sich jedem Hero­is­mus zu ver­wei­gern und seine Mär­sche ein biss­chen „zu ver­schmut­zen“ (Hanns Eisler) passte wun­der­bar zu Tex­ten von Charms wie „So ein Mensch ist aus drei Teilen gemacht“, „Fabel“ oder „Über Schein und Sein“. Das ist Lite­ra­tur fern allen Rea­lis­mus, sie lebt ganz vom Spie­le­ri­schen, Nutz­lo­sen und Absur­den und erzählt gerade des­halb viel über die Zeit ihrer Ent­ste­hung. Einen musi­ka­li­schen Glanz­punkt setzte das Jenaer Phil­har­mo­ni­sche Orches­ter unter Simon Gau­denz mit dem 4. Satz aus Fran­cis Pou­lencs „Die Hoch­zeit auf dem Eif­fel­turm“. Nach Stra­wins­kis „Zir­kus­pol­ka. Kom­po­niert für einen jun­gen Ele­fan­ten“ und vor Sibe­lius‘ „Valse triste“ las Ste­fan Kurt eines der schöns­ten, absur­den Gedichte für Kin­der „Wie Peter einst vom Berge glitt“.

Der zweite Teil des Abends war viel­leicht noch ein biss­chen homo­ge­ner als der erste. Er begann mit dem vir­tuos wohl­tem­pe­riert gespiel­ten Rag­time von Paul Hinde­mith, auf den Daniil Charms’ „Wenn ich einen Men­schen sehe“ folgte. Zwi­schen Erwin Schul­hoffs „Schä­del­tanz“ aus sei­nem Bal­lett­mys­terium „Oge­lala“ und einem Satz aus Erik Saties „Auto­ma­ti­schen Beschrei­bun­gen“ trug Ste­fan Kurt die absur­de Szene „Die Kas­sie­re­rin“ vor. Es gibt viel­leicht keine Kurz­ge­schichte in der dama­li­gen sowje­ti­schen Lite­ra­tur, in der das Terror­regime Sta­lins, das Ver­schwin­den von Men­schen, das „Plan­soll“ der „Sicher­heit­sor­gane“ und die Anpas­sung der Men­schen im All­tag so radi­kal und auf die Spitze der Absur­di­tät getrie­ben, dar­ge­stellt wurde, wie in Daniil Charms’ Geschichte von der Kas­sie­re­rin. Man möchte lachen, und doch bleibt es einem regel­recht „im Halse ste­cken“.

Die größte Kon­gru­enz zwi­schen Wort und Musik erziel­ten Ste­fan Kurt und das Orchester der Jenaer Phil­har­mo­nie mit kur­zer Prosa wie „Traum“, „Ein Mann mit Säck­chen und Stock“, „Ein Mann legte sich als Gläu­bi­ger schla­fen“ und „Die Null, die muss von Gott her stam­men“ und Musik aus Dmitri Schos­ta­ko­witschs „Ham­let“-Suite aus den Jahren 1931/32. Das ist die Zeit, in der der 26-jäh­rige Daniil Charms und der um ein Jahr jün­gere Schos­ta­ko­witsch die­selbe Luft in der Newa-Stadt atme­ten, im sel­ben kul­tu­rel­len Milieu agier­ten und in der sie noch voller Hoff­nung expe­ri­men­tie­ren konn­ten. Spä­ter wür­den sie den­sel­ben Gefah­ren aus­ge­setzt sein und ganz ähn­li­che Ängste haben.

Doch auch die Kom­bi­na­tion des absur­den Charms-Gedichts „Fal­len“, in dem Frauen aus den Fens­tern fal­len, mit dem ach­ten Satz („Mit­ter­nacht“) aus Prokof­jews „Cin­de­rella-Suite“ wir­kte sehr stim­mig. Ebenso wie der Kon­trast zwi­schen „Mei­nem Weibe“ und dem Wie­gen­lied aus Jörg Wid­manns „Dubai­ri­schen Tän­zen“. Ste­fan Kurt trug an vor­letz­ter Stelle das wun­der­bar zart und schwe­bend leichte Gedicht vor: „Ich weiß, warum die Wege, wenn sie sich von der Erde los­rei­ßen, mit den Vögeln spie­len.“ Eine ver­gleich­bare schwe­bende Leich­tig­keit war im drit­ten der vier See-Inter­lu­dien („Mond­licht“) aus Ben­ja­min Brit­tens Oper „Peter Grimes“ zu spüren.

Ste­fan Kurt und Simon Gau­denz über­lie­ßen Daniil Charms das erste („Wält“) und auch das letzte Wort („Gibt es etwas auf der Erde“). Dazwi­schen spann­ten sie einen lite­ra­risch-mu­si­ka­li­schen Raum auf, in dem wit­zige, humor­volle, schräge, bis zur äußers­ten Absur­di­tät getrie­bene Gedichte und Prosa-Texte des „mys­ti­schen Avant­gar­dis­ten“ Daniil Charms mit Musik der rus­si­schen, sow­je­ti­schen und westeu­ro­päi­schen Avant­garde kom­bi­niert wur­den. Allein mit seiner Stimme, Platz­wech­seln auf der Bühne, im Saal und auf dem Rang und ganz weni­gen spar­sa­men Gesten ver­mochte Ste­fan Kurt, die „Wort­akro­ba­tik“ des Dich­ters Daniil Charms zum Leben zu erwe­cken. Das Ein­zi­gar­tige die­ses Abends bestand aber im steten Wech­sel zwi­schen lite­ra­ri­schen Tex­ten und Musik, die eine gera­dezu „orga­ni­sche Ver­bin­dung“ mit­ein­an­der ein­gin­gen. Den Musi­ke­rin­nen und Musi­kern gelang es unter der ebenso empa­thi­schen wie ins­pi­rie­ren­den Stab­füh­rung von Simon Gau­denz, genau das jewei­lige Idiom aller gespiel­ten Stü­cke zu tref­fen. Eben des­halb gelang eine Ver­schmel­zung von Wort und Musik zu einer „lite­ra­risch-musi­ka­li­schen Per­for­mance“, die frisch und leben­dig wirkte und die noch lange bei allen, die sie erlebt haben, nach­wir­ken wird.

Der Jenaer Phil­har­mo­nie, Ste­fan Kurt und Simon Gau­denz ist zu wün­schen, dass sie mit die­sem hoch­ka­rä­tigen Pro­gramm auf Gast­spiel­reise gehen können.

 
Kammerkonzert № 2
| 22.10.2023

Stefan Kurt gestaltete als ›Verwandlungskünstler‹ alle Rollen in Strawinskis »Geschichte vom Soldaten«

War der Abend für Daniil Charms gleich­sam das Breit­wand­for­mat der Jenaer Phil­har­mo­nie, so folgte wenige Tage später im zwei­ten Kam­mer­kon­zert mit Igor Strawins­kis „Die Geschichte vom Sol­da­ten“ ein musi­ka­li­sches Kam­merspiel. Ste­fan Kurt über­nahm als Spre­cher alle Rol­len. Ihm zur Seite stand ein von Nico­lás Pas­quet diri­gier­tes, exzel­len­tes Kam­mer­mu­sik­en­sem­ble mit Chris­tof Reiff (Kla­ri­nette), Man­fred Baum­gärt­ner (Fa­gott), Stef­fen Nau­mann (Trom­pete), Mar­tin Zuck­schwerdt (Po­saune), René Münch (Schlag­zeug), Marius Sima (Vio­line) und Prze­mys­ław Bobrowski (Kon­tra­bass). Im Ori­gi­nal sind der Vor­le­ser und der Sol­dat Sprech­rollen, der Teu­fel eine Sprech- und Tanz­rolle und die Prin­zes­sin eine Tanz­rolle. In der Jenaer Auf­füh­rung über­nahm ARTIST IN RESI­DENCE Ste­fan Kurt alle Sprech­rol­len, war bald Spre­cher, ver­wan­delte sich sodann in den Sol­daten und gleich danach in den Teu­fel. Allein mit stimm­li­chen Mit­tel gelang es ihm, die Geschichte vom Sol­da­ten zu erzäh­len und sich in die unter­schied­li­chen Rol­len zu verset­zen.

Die Geschichte ist schnell erzählt. Der Sol­dat hat Urlaub, wan­dert in sein Hei­mat­dorf und begeg­net dem Teufel, dem er das Gei­gen­spiel bei­bringt und ihm seine Geige über­lässt. Dafür bekommt er ein Buch, in dem steht, wie man unermess­li­che Reich­tü­mer auf­häuft. In sei­nem Hei­mat­dorf ange­kom­men, muss er erken­nen, dass nicht drei Tage, son­dern drei Jahre, ver­gan­gen sind. Der Teufel rät ihm, sein Zau­ber­buch zu benut­zen. Nun wird der Soldat sehr, sehr reich, aber einen Men­schen, den er liebt, fin­det er nicht. Er zer­reißt das Buch, begeg­net wie­der dem Teufel, ent­reißt ihm die Geige, aber kein Ton ist zu hören.

Im zwei­ten Teil hört der nun wie­der arme, eins­tige Sol­dat von einer Prin­zes­sin, die sehr krank ist. Der all­ge­gen­wär­tige Teu­fel erzählt ihm im Schloss, nur Gei­gen­klänge könn­ten die Prin­zes­sin gesund machen; es gelingt dem Sol­da­ten, den Teu­fel betrun­ken zu machen, er heilt die Prin­zes­sin durch sein Gei­gen­spiel und lässt den Teu­fel durch seine auf der Geige gespiel­ten Klänge so lange tan­zen, bis er zusam­men­bricht. Der spricht noch die War­nung aus, der Sol­dat solle nie in seine Hei­mat gehen, sonst sei er des Teufels. Irgend­wann wird die Sehn­sucht des Sol­daten nach sei­ner Mut­ter so groß, dass er sich auf den Weg zu ihr macht. Und da holt ihn der Teufel.

Drei­er­lei beein­druck­te das Publ­ikum bei die­ser unge­wöhn­li­chen Auf­füh­rung von Igor Stra­wins­kis „Geschichte vom Sol­da­ten“, die Genau­ig­keit, mit der Ste­fan Kurt als Spre­cher rhyth­misch in die Musik „hinein­sprach“ und das Wan­dern des Sol­daten immer wie­der beschrieb, die Ver­wand­lungs­fä­hig­keit, mit der er in alle Rollen schlüpfte und damit zugleich eine unge­heure Dyna­mik der Hand­lung erzeugte und die Vir­tuo­si­tät, mit der die sie­ben Ins­tru­men­ta­lis­ten die Mär­sche, Tänze und Choräle die­ser popu­lä­ren Parti­tur, die auch Jazz-Ein­flüsse ent­hält, gespielt hat. Beson­ders zu erwäh­nen ist Marius Sima, der alle Gei­gen-Soli bra­vou­rös gespielt hat. Durch die kleine Beset­zung war jede Ins­tru­men­ten­stimme gleich­sam solis­tisch hör­bar. Unter der ein­fühl­sa­men Lei­tung von Nico­lás Pas­quet fan­den die sie­ben Musi­ker der Jenaer Phil­har­mo­nie zu einem leben­di­gen, sehr fri­schen und trans­pa­ren­ten Klang.

Im zweit­en Kam­mer­kon­zert der Jenaer Phil­har­mo­nie am Sonn­tag­mor­gen ver­schmol­zen abe­rmals Text und Musik zu einer wun­der­ba­ren Ein­heit. Ste­fan Kurt und das Kam­mer­mu­si­ken­sem­ble unter Nico­lás Pas­quet lie­ßen Igor Stra­wins­kis alle Kon­ven­tio­nen spren­gende „Geschichte vom Sol­da­ten“ zu einem ein­zig­ar­ti­gen Erle­bnis wer­den.

Dr. Dietmar Ebert

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