ARTIST IN RESIDENCE

Die Kunst des Liedgesangs – zwei herausragende Konzerte mit Benjamin Appl

Benjamin Appl mit der Jenaer Philharmonie, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch

Benjamin Appl mit Orchester­liedern von Hugo Wolf und Maurice Ravel

Das Konzert der Jenaer Philharmonie am Donnerstag, dem 17. März 2022, war vom Jenaer Konzert­publikum mit Spannung erwartet worden. Endlich konnte das Philhar­monische Orchester wieder in großer Besetzung spielen. Benjamin Appl, der ARTIST IN RESIDENCE, stellte in seinem dritten Konzert die Kunst des Lied­gesangs eindrucksvoll unter Beweis. Es war sein aus­drück­licher Wunsch, zehn der Orchester­lieder Hugo Wolfs dem Jenaer Publikum vorzustellen. Im September 2020 hatte er sie mit Simon Gaudenz und der Jenaer Philhar­monie aufgenommen. Kein leichtes Unter­fangen unter den Bedingungen der beginnenden Covid-19-Pandemie. Nun konnten die Jenaer Musik­freunde die selten zu hörenden, zum größten Teil von Hugo Wolf selbst orches­trierten Lieder auf Texte von Eduard Mörike und Johann Wolfgang Goethe erleben, die beim Label cpo erscheinende CD exklusiv vor der Veröff­entlichung Ende Mai erwerben und von Benjamin Appl und Simon Gaudenz signieren lassen.

Doch zunächst erklangen Vorspiel und Isoldes Liebestod aus Richard Wagners Musikdrama „Tristan und Isolde“. Die Jenaer Philharmonie fand unter Simon Gaudenz zu einem leidenschaftlich-intensiven, zugleich lyrisch-warmen und glanzvollen (Blechbläser) Orchester­klang. Wagner war es, der das kompo­sitorische Schaffen Hugo Wolfs aufs Stärkste beeinflusste. In der Vertonung von Gedichten fand Wolf die musikalische Form, um Wort und Ton in Spannung zu setzen oder zu verschmelzen. Von seinen ca. 300 Liedern für Sing­stimme und Klavier bearbeitete er nur knapp zwei Dutzend für kleinere und größere Orchester­besetzungen. Benjamin Appl sang die Vertonung von Goethes „Harfen­spieler I-III“ und „Epiphanias“ sowie die Mörike-Lieder „An den Schlaf“, „Fußreise“, „Denkʼ es, o Seele!“ und „Schlafendes Jesuskind“. Er verlieh mit seinem schlank geführten Bariton jedem der Lieder einen ganz eigenen Gestus und traf den heiteren Ton in der Ballade von den heiligen drei Königen ebenso genau wie die melancho­lische Grundierung der Mörike-Lieder. Für den lang anhaltenden Applaus bedankte sich der Sänger mit Hugo Wolfs trostreichem und ermutigendem „Gebet“. Die Schönheit und Intensität, mit der Benjamin Appl Wolfs Lieder sang, und die an Wagner, Schubert und ein bisschen an Ravel erinnernde Orchestrierung, von der Jenaer Philharmonie unter Simon Gaudenz bestens gespielt, lassen hoffen, dass die Zeit für eine Wieder­entdeckung der Orchester­lieder Hugo Wolfs gekommen ist. Wie Benjamin Appl die Wort-Ton-Balance gestaltete, jede Phrase genau artikulierte und sich seine Stimme mit den Orchester­klängen verband, die Simon Gaudenz regelrecht aufblühen und in allen Farben und Schattierungen leuchten ließ, das war sehr bewegend und berührte das Jenaer Konzert­publikum zutiefst.

Nach der Pause sang Benjamin Appl das Lieder-Tryptichon „Don Quichotte à Dulcinée“ von Maurice Ravel aus dem Jahr 1934. Diese drei Lieder, eine humor­voll beschwingte Romanze, ein Gebet an den Heiligen Michael und ein rustikales Trinklied, waren eine besondere Entdeckung für das Jenaer Publikum. Wie Benjamin Appl nur mit einem Zettel in der Hand, diese „drei letzten Lieder“ Ravels mit französischer Leichtigkeit sang, in der Romanze rhapsodische Töne anschlug, im Gebet an den Heiligen Michael zu einem fein nuancierten lyrisch-innigem Klang fand, das rustikale Trinklied voller Derbheit sang und darüber zugleich einen feinen Schleier der Ironie legte, das war große Gesangs­kunst und weckte das Verlangen, Ravels späte Lieder häufiger zu hören.
Das Konzert klang mit Maurice Ravels vier­sätziger „Rapsodie espagnole“ aus. Simon Gaudenz und das Philhar­monische Orchester Jena mit sechsfach besetztem Schlagwerk waren in dieser 1908 in Paris urauf­geführten Orchester­suite mit ihren spanischen Melodien und pointierten Rhythmen ganz in ihrem Element. Von der Nacht­stimmung, die den ganzen ersten Satz durchzieht, über die Tempi-Wechsel und Flamenco-Anklänge der Malagueña, die langsam-sinnlich angelegte Habanera bis hin zum mitreißenden Finale, war die Musik von südlichem Tempe­rament erfüllt. Das Publikum dankte mit nicht enden wollendem Applaus für dieses außer­gewöhnliche Konzert.

Benjamin Appl und ein Kammerensemble begeisterten mit englischer und französischer Musik

Das Besondere und Schöne in einer Zeit als ARTIST IN RESIDENCE ist für Benjamin Appl, Programme gestalten zu können, die fernab vom musikalischen Mainstream liegen. Es war ihm ein Herzens­anliegen, Lieder aus seiner zweiten Heimat (England) mit unbekannten Liedern Francis Poulencs zu koppeln und dem Jenaer Publikum nahe zu bringen. Ihn freue es auch, nicht nur mit dem großen Orchester arbeiten zu können, sondern auch einzelne Orchester­mitglieder im gemein­samen Musizieren näher kennen­zulernen. Das waren Doralice Borosz und Solveig Mathe (Violine), Christian Götz (Viola), Alexander Wegelin (Violoncello), Erdmute Geuther (Flöte), Christof Reiff (Klarinette), Manfred Baumgärtner (Fagott) und Tomislav Damjanović als Gast (Klavier). Was am Sonntag, dem 20. März 2022, in der Rathaus­diele zu hören war, gehört zum Schönsten, was in diesem Raum erklungen ist.

Benjamin Appl und Generalmusikdirektor Simon Gaudenz, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch
Benjamin Appl und Generalmusikdirektor Simon Gaudenz, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch

In einem Arran­gement für Sing­stimme und Streich­quartett sang Benjamin Appl „O Death, Rock me Asleep“. Der Text wird Anne Boleyn zugeschrieben und wurde von einem Komponisten vertont, der heute nicht mehr bekannt ist. Durch das Konzert mit Reinhard Goebel wissen wir, wie sehr Benjamin Appl in der frühen deutschen Musik zu Hause ist. Nach „O Death, Rock me Asleep“ wissen wir, dass das ebenso für die frühe englische Musik gilt. Dann erfolgte ein großer zeitlicher und räumlicher Sprung: Mitten hinein ins frühe 20. Jahrhundert und zu Samuel Barber. Begleitet vom Streich­quartett der Jenaer Philharmonie sang Benjamin Appl „Dover Beach“ aus dem Jahr 1931. Nach diesem ausdrucks­starken, für seine Stimme wie geschaffenen Lied, war klar, dass Samuel Barbers op. 3 zu den Liedern im englisch­sprachigen Raum gehört, die größere Aufmerk­samkeit verdienen.
Im Anschluss daran spielten Erdmute Geuther, Christof Reiff und Tomislav Damjanović Florent Schmitts Sonatine für Klavier, Flöte und Klarinette, die in den Jahren 1934/1935 entstanden ist. Ihr klares, feinste Nuancen hörbar machendes Spiel zeigte, dass Florent Schmitt zu den französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts gehört, dessen Musik wieder entdeckt werden sollte. Nun folgte ein avant­gard­istisches Stück von Francis Poulenc aus dem Jahr 1919: „Die Tiere oder das Gefolge des Orpheus“ nach Texten von Guillaume Apollinaire. Neben dem Streich­quartett kommen Flöte, Klarinette und Fagott zum Einsatz. Die Miniatur­gesänge dauern eine knappe Minute. Benjamin Appl, Erdmute Geuther, Christoff Reiff, Manfred Baumgärtner und das Streich­quartett der Jenaer Philharmonie ließen hören, wie es klingt, wenn das Dromedar, die tibet­anische Ziege, der Grashüpfer, der Delphin, der Krebs und der Karpfen Orpheus begleiten und bereiteten dem Publikum mit diesem wunderbar humor­vollen Stück ein großes Hör­vergnügen. Die folgende Komposition, Francis Poulencs „Rapsodie nègre“ (1917) ist ein von Flöte, Klarinette, Streichquartett und Klavier getragenes fünfsätziges Instrumental­stück, in dem der Sänger im 3. Satz und im Finalsatz einen von Makoko Kangourou (wer immer das sein mag) verfassten Nonsens-Text beisteuert. Benjamin Appl sang ihn aus einem Neben­raum der Rathausdiele. Auch dieses witzige avant­gard­istische Stück wurde vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen.

Der zweite Teil des Programms begann mit Franz Schuberts nach­gelassenem Lied „Auf dem Strom“ auf einen Text von Ludwig Rellstab. Benjamin Appl wurde von Alexander Wegelin und Tomislav Damjanović begleitet. Dieses wenig bekannte Schubert-Lied lebt vor allem vom Zusammen­klang zwischen Sing­stimme und Violon­cello. Unmittelbar im Anschluss daran sang Benjamin Appl, wiederum von Alexander Wegelin und Tomislav Damjanović begleitet, eine Variation von Benjamin Britten auf das deutsche Volkslied „Da drunten im Tale“. Geschrieben hat Britten diese Lied­variation 1946 für Peter Pears. Mit ihrem Anklang an den Volksliedton sang Benjamin Appl beide Lieder mit Ruhe, starkem Ausdruck und voller Schlichtheit. Nun folgten drei pastorale Lieder des hierzulande kaum bekannten englischen Komponisten Roger Quilter auf Texte von Joseph Campbell für Sing­stimme, Violine, Violoncello und Klavier. Quilter hat sie 1920 geschrieben. Benjamin Appl sang „I Will Go with My Father“, „Cherry Valley“ und „I Wish and I Wish“ mit einer feinen Balance von innerer Bewegung und Leichtigkeit. Er ließ den Wunsch aufkeimen, mehr Musik von diesem Komponisten kennenzulernen.
Die vier­sätzige Suite für Fagott und Streich­quartett von Gordon Jacob aus dem Jahr 1968 bot Doralice Borosz, Solveig Mathe, Christian Götz, Alexander Wegelin und besonders Manfred Baumgärtner die Möglichkeit, ihr ganzes instrumentales Können zu beweisen. Vor allem im Rondo-Finale brillierte der Solo-Fagottist der Jenaer Philharmonie auf seinem Instrument.

Benjamin Appl und Generalmusikdirektor Simon Gaudenz, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch
Benjamin Appl und Generalmusikdirektor Simon Gaudenz, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch

Das Kammer­konzert in der Jenaer Rathaus­diele klang mit „Easter“ („Ostern“) aus den Five Mystical Songs von Ralph Vaughan Williams aus. Benjamin Appl sang das erste der fünf mystischen Lieder mit pracht­voller Stimme und stellte seinen Gesang ganz in den Dienst der Komposition des britischen Komponisten. Begleitet wurde er vom Streich­quartett der Jenaer Philharmonie und Tomislav Damjanović. Die gesamten Five Mystical Songs, die Ralph Vaughan Williams auf Texte von George Herbert 1911 komponiert hat, wird Benjamin Appl am Freitag, den 6. Mai 2022, im Studio 1 des Bayerischen Rundfunks singen.

Natürlich verlangte das begeisterte Publikum nach einer Zugabe, und Benjamin Appl gewährte sie gern. Als Trost für das in Jena ausgefallene Silvester- und Neujahrskonzert sang er aus Leonard Bernsteins frühem Geniestreich „On the town“ den berühmten Song: „Lucky to be me!“

Dass ein solches Kammer­konzert in Zeiten wie diesen in der Jenaer Rathaus­diele stattfinden konnte, ist ein Zeichen der Hoffnung. Dieses Kammer­konzert lebte von einer intelligenten, gediegenen Programm­gestaltung. In ihm wurden fast ausschließlich unbekannte Werke zu Gehör gebracht. Erdmute Geuther, Christof Reiff, Manfred Baumgärtner, Doralice Borosz, Solveig Mathe, Christian Götz, Alexander Wegelin und Tomislav Damjanović konnten ihr solistisches und kammer­musik­alisches Können eindrucksvoll unter Beweis stellen.

Benjamin Appl sang Lieder seiner zweiten, seiner englischen Heimat und kontrastierte sie mit Liedern der französischen Avantgarde. Besonders reizvoll war die Kombination seiner Gesangs­stimme mit einer wechselnden Kammer­besetzung. Er vollbrachte eine gesangliche Glanz­leistung und wurde seinem Ruf als einem der führenden Vertreter des gegen­wärtigen Lied­gesangs vollauf gerecht!

Dr. Dietmar Ebert

Zurück