Die Solis­tin­nen Nina Kou­fo­chris­tou und Eve­lyn Krahe, der von Berit Wal­ther ein­stu­dierte Madri­gal­kreis, das in allen Ins­tru­men­ten­grup­pen her­vor­ra­gende Or­ches­ter der Jenaer Phil­har­mo­nie, Simon Gau­denz und vor allem Andrea Scar­taz­zini wur­den mehr als 15 Minu­ten lang mit Bra­vos, ste­hen­den Ova­tio­nen und herz­li­chem App­laus ge­fei­ert.

Am Don­ners­tag, dem 5. Juni, fand der Mah­ler-Scar­taz­zini-Zyk­lus, den Simon Gau­denz seit 2018 mit der Jenaer Phil­har­mo­nie erfolg­reich gestal­tet, sei­nen krö­nen­den Ab­schluss. Andrea Lorenzo Scar­taz­zini hatte bis­lang vor der Auf­füh­rung jeder Sin­fo­nie Gustav Mah­lers ein Stück kom­po­niert, das sich ihr nä­herte, zu ihr hin­führte und mit ihr in Dia­log trat. Dies­mal war es genau umge­kehrt. Simon Gau­denz stellte dem gesam­ten Zyk­lus Scar­taz­zi­nis den Kopf­satz aus Mah­lers 10. Sin­fo­nie voran. So gelang es, dass sich zwi­schen Mah­lers Frag­ment und Scar­taz­zi­nis Zyk­lus ein musi­ka­li­scher Dia­log ent­spin­nen konnte, dass ein Span­nungs­bo­gen zwi­schen dem Schmerz des Ab­schied­neh­mens und dem Frie­den inne­rer Ein­kehr ent­ste­hen konnte.

Mit Adagio, dem ein­zig voll­en­de­ten Satz aus Gus­tav Mah­lers 10. Sin­fo­nie in Fis-Dur, wurde das Pub­li­kum sofort in die Gedan­ken- und Gefühls­welt des Kom­po­nis­ten hin­ein­ge­zo­gen. Unter der prä­zi­sen, ins­pi­rie­ren­den Stab­führ­ung sei­nes Chef­di­ri­gen­ten ließ das Or­ches­ter ein dif­fe­ren­zier­tes Klang­ge­webe ent­ste­hen. Cho­ral­ar­ti­ge Posau­nen­ak­kor­de grun­dier­ten zuneh­mend den poly­pho­nen Strei­cher­klang. Erschüt­ternd ent­lud sich der berühmte Neun­ton­ak­kord, in dem aller Schmerz des Men­schen gebün­delt scheint, ehe der Satz mit einem berüh­ren­den Ab­schied­neh­men ver­klang.

Ohne Über­gang erklang Andrea Scar­taz­zi­nis zehn­sät­zi­ger Zyk­lus. Ins­pi­riert von Ril­kes Gedicht „Archai­scher Torso Apol­los“ begann der erste Satz „Torso“ mit der Fan­fare zweier Fern­trom­pe­ten (Stef­fen Nau­mann, Ale­xan­der Such­lich). Sie weck­ten das Or­ches­ter und lie­ßen es zum „Klang-Kör­per“ wer­den. Ein groß­räu­mi­ger Oktav­klang lei­tete zum ele­gi­schen „Epi­taph“ mit sei­ner lan­gen Solo­cello-Kadenz (Hen­riette Lätsch) über. Der bes­tens dis­po­nierte Madri­gal­kreis sang die Ver­to­nung der Ril­ke-Verse:

„Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
Der große Tod, den jeder in sich hat,
das ist die Frucht, um die sich alles dreht.“

Danach erklang mit „Spiriti“ ein geis­ter­haf­tes, von hu­schen­den Figu­ren getra­ge­nes Scherzo. Nun folgte mit „Incan­te­simo“ das von Nina Kou­fo­chris­tou groß­ar­tig gesun­gene Lied eines ein­sa­men Fischers an sein Lieb­chen. Die­ses Ein­tau­chen in eine weit ent­rück­te Sehn­suchts­welt, das gleich­wohl wie Mah­lers 4. Sin­fo­nie mit einer „Als-ob-Stim­mung“ spielt, ging über in „Ein­klang“. Ver­strömte „Ein­klang“ ein hohes Maß an inne­rer Ruhe, in dem sich Mah­lers „Ein­klang“ mit der Natur spie­gelte, so schien „Omen“ von nahe­zu mythi­schen Vor­ah­nun­gen und Schick­sals­zei­chen geprägt zu sein und endete mit einem ge­wal­ti­gen or­ches­tra­len Auf­schrei. In „Orkus“ erzeug­ten Klang­stru­del eine Ab­wärts­be­we­gung. Ein Stim­mungs­wech­sel ließ die Kom­po­si­tion in einer Art „Nacht­stück“ enden. Es schien, als sei auf ein­mal der ge­stirn­te Him­mel sicht­bar gewor­den. „Anima“ liegt Goe­thes „Gesang der Geis­ter über den Was­sern“ zu­grun­de. Gleich dem Kreis­lauf des Was­sers schien Fausts Seele nach Erlö­sung suchend zwi­schen Him­mel und Erde zu pen­deln. Es gelang dem von Berit Wal­ther ein­stu­dier­ten Madri­gal­kreis phan­tas­tisch, einen geis­ter­haf­ten Grund­klang in diese Musik zu weben, aus dem die Altis­tin Eve­lyn Krahe ihren wun­der­ba­ren Gesang auf­stei­gen und ruhig strö­men ließ. Einen ebenso star­ken Ein­druck wie „Anima“ hin­ter­ließ „Enigma“ mit sei­nen sanf­ten Strei­cher­ak­kor­den und Luft­ge­räu­schen der Blä­ser. Noch ein­mal sang der Madri­gal­kreis die Rilke-Verse aus „Epi­taph“. Dann begann laut­ma­le­risch „Ein­kehr“ mit Pfer­de­ge­trap­pel, Brun­nen­ge­räu­schen und Har­fen­klän­gen. Die Laut­ma­le­rei lei­tete zum Gesang der ers­ten Stro­phe aus Höl­der­lins Elegie „Brot und Wein“ über, den der Jenaer Madri­gal­kreis, Nina Kou­fo­chris­tou und Eve­lyn Krahe zu einem voka­len Höhe­punkt führ­ten. Wie ein leiser Gruß erin­nerte der Gesang auf Höl­der­lins Worte an das Finale der „Auf­er­steh­ungs­sin­fonie.“ Der Zyklus endete mit einem Cis-Ton der Trom­pete, dem­selben Ton, mit dem der Zyk­lus begon­nen hatte.

Die be­ein­dru­cken­de, sehr ge­lun­gene Auf­füh­rung hat gezeigt, dass Andrea Scar­taz­zinis Zyk­lus als „Hom­mage à Gus­tav Mah­ler“ einen phan­tas­ti­schen Span­nungs­bo­gen in sich trägt, dass jedes Stück mit der ent­spre­chen­den Mah­ler-Sin­fonie her­vor­ra­gend kor­res­pon­diert, der ge­sam­te Zyk­lus je­doch auch al­lein in Kon­zer­ten gro­ßer Sin­fo­nie­or­ches­ter ge­spielt wer­den kann.

Die bei­den Solis­tin­nen Nina Kou­fo­chris­tou und Eve­lyn Krahe, der Jenaer Madri­gal­kreis, die in allen Ins­tru­men­ten­grup­pen gran­dio­se Jenaer Phil­har­mo­nie, ihr Chef­di­ri­gent Simon Gau­denz und der Kom­po­nist Andrea Scar­taz­zini wur­den eine Vier­tel­stunde lang mit Bra­vos, ste­hen­den Ova­tio­nen und herz­li­chem Bei­fall ge­fei­ert.

Der Mah­ler-Scar­taz­zini-Zyk­lus, der bald auch als Gesamt­ein­spie­lung beim Label „Odra­dek“ vor­lie­gen wird, ist ein Geschenk an die Stadt Jena, das in die­ser Inten­si­tät und Qua­li­tät ein­ma­lig ist und in Deutsch­land, Öster­reich und der Schweiz große Beach­tung fin­det. Sein fest­lich­er Ab­schluss zeigt, dass in den letz­ten sie­ben Jah­ren die Chöre und vor allem das Or­ches­ter der Jenaer Phil­har­mo­nie eine enorme Ent­wick­lung ge­nom­men haben. Dafür gilt allen Sän­ge­rin­nen und Sän­gern, allen Ins­tru­men­ta­lis­tin­nen und Ins­tru­men­ta­lis­ten, vor allem jedoch Simon Gau­denz ein sehr herz­li­ches Dan­ke­schön.

Dr. Dietmar Ebert


Fotos: JenaKultur, Alexandra Münch

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