Dietmar Ebert über das Konzert der Jenaer Philharmonie am Donnerstag, den 18. Oktober 2018

Mit Haydn, Mahler und Scartazzini gelang der Aufbruch in eine neue Ära des Jenaer Philharmonischen Orchesters

Simon Gaudenz und die Jenaer Philharmonie, Foto: Tina Peißker
Simon Gaudenz und die Jenaer Philharmonie, Foto: Tina Peißker

Am Abend des 18. Oktober erstrahlte der frisch renovierte Volkshaussaal in neuem Glanz. Das Konzert des Philharmonischen Orchesters war ganz auf einen Neuanfang ausgerichtet.
Zunächst erklang unter der Stabführung von Simon Gaudenz Joseph Haydns Sinfonie Nr. 6 in D-Dur („Le Matin“ - „Der Morgen“ Hob.I:6) im Stil der „historisch informierten Aufführungspraxis“. Die Musikerinnen und Musiker spielten im Stehen. Das verlieh ihrem Spiel Beweglichkeit und Improvisationsfreude. Zugleich konnte sich der Klang  frei im Raum entfalten. Zwischen Solo-Violine, Solo-Violoncello und Solo-Kontrabass (Concertino) und einem Tutti aus Holzflöte, zwei Naturhörnern, zwei Oboen und Streichern entspann sich ein reizvolles Konzertieren. Simon Gaudenz fand mit seinem kleinen Orchester zu einem frischen, schlackenlosen Haydn-Klang, wie er in Jena bisher nicht zu hören war. Joseph Haydns frühe Sinfonie aus dem „Tageszeiten-Zyklus“ entstand zu Beginn seines Wirkens beim Fürsten Esterházy und fällt genau in die Phase des Tastens und Ausprobierens. Er wollte erkunden, was alles musikalisch mit der Hofkapelle in Eisenstadt und Esterháza möglich wäre. Genau an diesem Punkt treffen sich die Intentionen von Simon Gaudenz und Joseph Haydn. Das Ergebnis war ein reiner, transparenter und lichter Klang des Kammerorchesters. Wieder einmal hat Simon Gaudenz drei Stücke ins Programm genommen, die mit einander korrespondieren und trotzdem klingt das Orchester in jedem Stück anders.

Andrea Lorenzo Scartazzinis eigens für diesen Abend komponiertes Stück „Torso“ bildet den Anfang des Mahler-Scartazzini-Zyklus und ist der 1. Sinfonie in D-Dur  voran gestellt. In den kommenden fünf Jahren wird jeder weiteren Mahler-Sinfonie eine neue Komposition zur Seite gestellt. Mit dieser werden alle früheren Stücke Scartazzinis gespielt, so dass am Ende ein ganzer Zyklus entstehen wird. Die Uraufführung von Scaratazzinis „Torso“ für Orchester war vielversprechend:  Zwei Ferntrompeten (außerhalb des Saales postiert – hervorragend Steffen Naumann und Alexander Suchlich) lassen Töne wie aus weiter Ferne erklingen. Sie wirken wie „Boten“, die das Orchester zum Leben erwachen lassen, ganz ähnlich wie in Rainer Maria Rilkes Sonett der Torso Apollos zum Leben erwacht und den Betrachter anblickt. Windmaschine, Holzbläserflattern, Marimbaphon und Harfe erzeugen eine Art klingendes Erwachen, ehe die Streicher einsetzen und nach und nach ein kompakter Orchesterklang entsteht, in dem die Klangfarben der Streicher, Holz-und Blechbläser sich mit dem der Schlagwerker vermischen, bis ein leises Pochen erklingt und Scartazzinis „Torso“ sich mit dem Anfang von Gustav Mahlers 1. Sinfonie leise und fein berührt. Vielleicht lässt sich dieses Erwachen auch mit Walter Benjamin als Synthesis „aus der Thesis des Traumbewusstseins und der Antithesis des Wachbewusstseins“ verstehen. Dann wäre Scartazzini das Kunststück geglückt, dass im Moment des Erwachens seine Musik ihre „wahre Miene“ aufsetzt. (Walter Benjamin). Sollte es sich so verhalten, würde im Anfang von Mahlers Sinfonie das Erwachen fortgesetzt, bis im Kopfsatz der 1. Sinfonie von Gustav Mahler sein Lied „Ging heut‘ morgen über‘s Feld“ aus den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ durch alle Instrumentengruppen wandert und zum Hauptthema des ersten Satzes wird. Bereits in dieser „Wanderschaft“ zeigte sich das hohe musikalische Niveau des Jenaer Orchesters, klar in jedem instrumentalen Solo und kompakt im Orchesterklang. Vielleicht grüßt gerade im Kopfsatz der 1. Sinfonie das liedhafte Thema auf der einen Seite Franz Schubert, auf der anderen Andrea Lorenzo Scartazzini. Im derben Ländler trafen Gaudenz und das Orchester den von Tanzkapellen auf dem Lande abgelauschten Tonfall. Das klang nicht zu schön, doch dafür sehr ausdrucksstark. Konzertmeister Marius Sima gab seinen Streichern genau den richtigen Ton vor. Der dritte Satz beginnt mit dem leicht verfremdeten „Bruder-Jakob“-Zitat im Kontrabass. Przemysław Bobrowski traf genau Mahlers leicht ironische Intention und spielte sein Solo nicht elegant und auf Hochglanz „poliert“.

Simon Gaudenz erschuf mit dem Jenaer Orchester eine Klangcollage, in der Trauer und Groteske, Tragisches und Triviales in einzigartiger Weise verschmolzen. Im Finalsatz, der mit einem Aufschrei im Fortissimo beginnt, ließ er die Dramatik eines gewaltigen seelischen Ringens, das dreimal zu scheitern droht, mit einer hohen Intensität musizieren, ehe schließlich wie aus heiterem Himmel der strahlende D-Dur-Dreiklang die Sinfonie beschließt. Gustav Mahler wollte, dass er klingen sollte, „als wäre er vom Himmel gefallen, als käme er von einer anderen Welt“. Genauso haben die Jenaer Philharmoniker unter Simon Gaudenz diese Stelle, „die …ihresgleichen sucht“ (Mahler), gespielt. Und wie vom Gipfelpunkt eines Berges, fiel ein Licht auf den Beginn von Scartazzinis „Torso“, denn auch seine Ferntrompeten klangen, als kämen sie von einer anderen Welt.

Der Mahler-Scartazzini-Zyklus in Jena begann vielversprechend. Jedes neue Werk lässt auf Entdeckungen hoffen, und es besteht die große Chance, dass etwas Bleibendes entsteht. Das Jenaer Publikum feierte sein Orchester, Simon Gaudenz und  Andrea Lorenzo Scartazzini. Das Konzert markierte den Aufbruch in eine neue Ära des Orchesters.

Dr. Dietmar Ebert

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