Zehn Uraufführungen Andrea Lorenzo Scartazzinis, des bedeutenden Schweizer Komponisten, die den zehn Sinfonien Gustav Mahlers unmittelbar vorangestellt werden – das ist das weltweit einzigartige Vorhaben der Jenaer Philharmonie und ihres Generalmusikdirektors Simon Gaudenz.
Der Mahler-Scartazzini-Zyklus findet große internationale Aufmerksamkeit und wird nun vom renommierten Label Odradek auf CD herausgegeben. Am 17. März 2023 ist das erste Doppelalbum mit Mahlers Sinfonien Nr. 4 und Nr. 5 sowie Scartazzinis Werken „Incantesimo“ und „Einklang“ erschienen. Am 24. November 2023 erscheinen die Sinfonie Nr. 2 und Nr. 3 mit den Scartazzini-Prologen „Torso“, „Epitaph“ und „Spiriti“. Die Einspielungen sind im Handel, auf den einschlägigen digitalen Plattformen und bei den Musikstreaming-Diensten erhältlich.
In den kommenden zwei Jahren wird der gesamte Mahler-Scartazzini-Zyklus der Jenaer Philharmonie veröffentlicht werden. Im Frühjahr 2024 folgen der sechste und siebte Teil, im Frühjahr 2025 Teil acht und neun und schließlich im Herbst 2025 die Teile eins und zehn. In der zehnten und abschließenden Aufführung werden alle zehn Kompositionen Scartazzinis erklingen, gefolgt von Mahlers Originalsatz der Zehnten Sinfonie. So dreht sich zum Abschluss die zeitliche Relation zwischen den beiden Komponisten um – der Klang der Gegenwart öffnet die Tür in die Zukunft.
Wenn am 8. März 2024 unter dem Taktstock von Generalmusikdirektor Simon Gaudenz die ersten Takte von Gustav Mahlers 8. Sinfonie erklingen, schließt sich ein beeindruckender Kreis von neunzig Jahren bewegter und bewegender Geschichte.
Mahlers opulentes, überschäumendes und doch gleichzeitig auch so nachdenkliches und feinsinniges Werk auszuwählen, um das Jubiläum der Jenaer Philharmonie zu feiern, ergibt gleich mehrfach Sinn.
Mit dem Mahler-Scartazzini-Zyklus stellt das Orchester in den letzten Jahren kontinuierlich seine bemerkenswerte künstlerische Leistungsfähigkeit unter Beweis. Durch die jeweilige Uraufführung der sensibel in Mahlers Klangwelt einführenden, vorangestellten Orchesterstücke von Andrea Lorenzo Scartazzini ist zudem ein Coup gelungen, der große Resonanz in der internationalen Musikszene erzeugt. Die CD-Einspielung des gesamten Zyklus vermag verstärkt Aufmerksamkeit auf die enorme Qualität des Jenaer Klangkörpers zu lenken, der gleichzeitig durch seine umfangreiche Gastspieltätigkeit eine sympathische Botschafterfunktion für Jena und den Freistaat Thüringen ausübt.
Ein Alleinstellungsmerkmal der Jenaer Philharmonie sind zudem die angeschlossenen Chöre. Auch deren kontinuierlicher Beitrag für das reiche Repertoire der Jenaer Konzertprogramme kann nicht spektakulärer gefeiert werden, als mit der Aufführung von Mahlers 8. Sinfonie, die für alle drei Chöre eine große Herausforderung und ein echtes Sängerfest darstellt.
Das oft als „Sinfonie der Tausend“ bezeichnete Werk Mahlers feiert die Gemeinsamkeit und das Zusammen. Das umfangreiche Werk ist nur mit Kooperationen sinnvoll zu bewältigen, und so kann das Jubiläum der Jenaer Philharmonie gemeinsam mit der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz, dem Chor der Oper Chemnitz und dem Monteverdichor Würzburg begangen werden.
Und schließlich ist es im Jahr 2024 eben Gustav Mahler, mit dessen Werk die Stadt Jena ihr eigenes Orchester feiert. Ein Richard-Wagner-Abend war es, mit dem das neugegründete Orchester am 29. November 1934 das erste Konzert bestritt. Dass es ein eigenes, städtisches Orchester in Jena gab, war jahrzehntelang gefordert worden. Dass es ausgerechnet der nationalsozialistische Oberbürgermeister Armin Schmidt war, der sich mit der Gründung eines städtischen Kulturamts und des Städtischen Sinfonieorchesters Jena als durchsetzungsstarker NS-Kulturpolitiker profilieren konnte, ist eine Hypothek, die zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Geschichte verpflichtet.
Auch deswegen feiert die Jenaer Philharmonie ihr neunzigjähriges Jubiläum mit dem 1934 von Nazis verbotenen Werk Gustav Mahlers, des jüdischen Komponisten, der wie kein zweiter die Musikgeschichte des beginnenden 20. Jahrhunderts bereichert und geprägt hat.
Das Mahler-Scartazzini-Projekt wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert. Die Uraufführungen Scartazzinis zu den ersten beiden Mahler-Sinfonien waren gemeinsame Kompositionsaufträge der Jenaer Philharmonie und des Berner Symphonieorchesters sowie des Sinfonieorchesters Basel. Scartazzinis Werk zu Mahlers dritter Sinfonie wurde gemeinsam mit der Neubrandenburger Philharmonie, sein Werk zur vierten Sinfonie zusammen mit der Philharmonie Südwestfalen in Auftrag gegeben. Die Werke von Andrea Lorenzo Scartazzini erscheinen im Bärenreiter-Verlag.
Längst erwarten die Musikerinnen und Musiker der Jenaer Philharmonie genauso wie ihr Publikum mit Spannung die jeweilige Fortsetzung des Mahler-Scartazzini-Zyklus, in dessen Rahmen der Schweizer Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini jeder Sinfonie Gustav Mahlers eine eigene Orchesterkomposition gegenüberstellt.
Andrea Lorenzo Scartazzini und Simon Gaudenz, Foto: JenaKultur, Christoph Worsch
Dem Hörer wie dem Interpreten eröffnet er damit einen Kosmos von Bezügen, Korrespondenzen und Assoziationen, die nicht zuletzt mit Mahlers eigenem Anspruch einhergehen, mit jeder seiner Sinfonien eine „ganze Welt“ zu erschaffen. Eine Welt, die Scartazzini seinerseits spiegelt, kommentiert und ins Jetzt überträgt.
Die Fortsetzung dieser Entdeckungsreise, die nicht zuletzt dazu anregt, in (scheinbar) Bekanntem neue inhaltliche Aspekte, konstruktive Verbindungen und tönende Details wahrzunehmen, findet in dieser Spielzeit mit Mahlers Sinfonien Nr. 6 und 7 statt, denen Scartazzini je ein korrespondierendes eigenes Werk zur Seite stellt. Überraschende Brückenschläge wie auch Momente von Kontrast und Konfrontation inklusive.
Wer die vierte Episode des Zyklus verpasst hat oder sie erneut erleben möchte, kann im Übrigen Mahlers 4. Sinfonie in Kombination mit Scartazzinis „Incantesimo“ im Rahmen von Gastspielen der Jenaer Philharmonie am 22. April in Worms und/oder am 23. April 2023 in Mülheim an der Ruhr hören.
Welche Rolle spielen Zahlen im Kompositionsprozess? Passend zum Spielzeitmotto „ZahlenSpiele“ gewährt uns Andrea Lorenzo Scartazzini Einblicke in seine Arbeit:
Nicht selten werde ich gefragt, ob ich beim Komponieren rechne, zähle oder mathematisch denke …
Weil Musik auf zeitlichen Abläufen basiert und die Zusammenklänge im Orchester genauestens abgestimmt sein müssen, ist die Organisation der Partitur ohne rechnerische Systematik natürlich undenkbar: Tempoangaben, Taktarten, rhythmische Verhältnisse, Dauern, Tonhöhen – all das ist durchdrungen von der ordnenden Kraft der Zahlen. Beim Komponieren sind sie ständige Begleiter: Soll ein Akkord drei-, vier- oder fünfstimmig sein? In wie viele Teile (Pulte) muss ich die Streicher für einen besonders vielstimmigen Klang teilen, sind Doppelgriffe dazu nötig? In welcher Relation stehen die gewählten Tempi zueinander? Solche und andere Fragen bringen ständig Zahlen ins Spiel; sie sind Teil des Entstehungsprozesses eines Stücks. Mathematik im eigentlichen Sinne ist das aber natürlich nicht.
In früheren Stücken habe ich zuweilen zögerlich mit der Fibonacci-Folge [1] experimentiert; auch Experimente mit „Goldener Schnitt“-Proportionen [2] gab es, doch mittlerweile stelle ich ein solches Vorgehen bei mir persönlich in Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob Musik dadurch besser wird oder mehr zu uns spricht, weil sie solcherart organisiert ist. Natürlich klingt ein Verweis auf proportionale oder algorithmische Konzepte erst mal beeindruckend, weil dies als Gütesiegel für die Qualität einer Komposition herhalten kann. Dass es zu einem intensiveren Hörerlebnis führt, konnte ich allerdings nicht immer feststellen.
Es gibt aber auch eine Stimmigkeit auf anderer Ebene, nämlich dann, wenn sich aus dem Kompositionsprozess heraus auf ganz natürliche Art eigene Verhältnisse ausbilden. Wenn Teile sich fügen, Symmetrien oder Entsprechungen aus sich heraus entstehen, ohne dass sie dem Stück als strukturbildende Maßnahme vorweg aufgepfropft werden.
Es mag rätselhaft klingen, aber im besten Fall erschafft sich eine Musik ihre eigene Gestalt wie ein Organismus, und als Komponist fühlt man sich in solchen Momenten eher in der Rolle eines Beobachters statt eines Schöpfers, der beständig willentliche Entscheidungen trifft. Man sieht dem Stück, das man schreibt, sozusagen beim Wachsen zu.
Vielleicht ist das der berühmte Musenkuss, auf den man stets hofft und der die Arbeit des Zählens und Vermessens erst beseelt.
[1] Die unendliche Folge natürlicher Zahlen, die mit zweimal der Zahl 1 beginnt und in der im Anschluss jeweils die Summe zweier aufeinanderfolgender Zahlen die danach folgende Zahl ergibt.
[2] Der Goldene Schnitt ist eine seit der Antike bekannte Gestaltungsregel und bezeichnet das Teilungsverhältnis zweier Größen/Abschnitte zueinander. Diese Teilung gilt als ausgewogenes Leitmaß und wird vom Menschen als besonders harmonisch empfunden.
Das Mahler-Scartazzini-Projekt wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert. Die Uraufführungen Scartazzinis zu den ersten beiden Mahler-Sinfonien waren gemeinsame Kompositionsaufträge der Jenaer Philharmonie und des Berner Symphonieorchesters sowie des Sinfonieorchesters Basel. Scartazzinis Werk zu Mahlers dritter Sinfonie wurde gemeinsam mit der Neubrandenburger Philharmonie, sein Werk zur vierten Sinfonie zusammen mit der Philharmonie Südwestfalen in Auftrag gegeben. Die Werke von Andrea Lorenzo Scartazzini erscheinen im Bärenreiter-Verlag.
Spielzeit 2021.2022
Der Mahler-Scartazzini-Zyklus wird fortgesetzt.
Die Musik braucht ein Ohr
Der Komponist Andrea Lorenzo Scartazzini ist der Jenaer Philharmonie inzwischen eng verbunden. Seit dem Start des vielbeachteten Zyklus mit allen Mahler-Sinfonien, zu denen Scartazzini jeweils ein neues, assoziiertes Orchesterwerk schreibt, wächst die intensive Beziehung zu den Musikerinnen und Musikern des Orchesters, die mit ihm gemeinsam auf die Entdeckungsreise in den immer vertrauter werdenden Mahler-Scartazzini-Kosmos gehen. In dieser Saison stehen, nachdem sie schon für die letzte Spielzeit geplant waren, die Uraufführungen seiner Werke zu Mahlers vierter und fünfter Sinfonie bevor.
Scartazzini hat uns einige Gedanken über Einsamkeit und Gemeinschaftserlebnisse in seinem Metier geschrieben:
Andrea Lorenzo Scartazzini und Simon Gaudenz, Foto: Lucia Hunziker
Ich setze mich hin, blende den Alltag aus, werde leer, warte, bis sich ein Gedanke regt. Ich spinne ihn weiter, fühle, male mir aus, höre in mich hinein, lasse mich treiben, wäge ab, beginne von vorne und irgendwann setze ich den Stift aufs Papier. So entsteht die Musik, Note für Note, Takt für Takt.
Und immer bin ich mit mir allein. Das ist schwer, wenn die Ideen stocken und die Zeit kaum vergeht. Und es ist schön und beglückend, wenn aus der Stille des Alleinseins schließlich eine tönende Fülle erwächst.
Im Zusammenhang mit dem Jenaer Mahler-Scartazzini-Zyklus erlebe ich diesen kreativen Prozess auf eine besondere Art und Weise anders. Da bin ich weniger allein, denn ich habe mit Gustav Mahler und seinen Werken ein Gegenüber, das auch über die Distanz von mehr als hundert Jahren zu mir spricht. Der Ausgangspunkt für ein neues Stück von mir ist stets eine seiner Sinfonien: Ihre Gedankenwelt, ihr Bau, ein bestimmter Satz; all das sind Impulse, die mich zuletzt zu meinem eigenen Musikstück führen.
So hat mich seine Vierte, die mit dem Wunderhorn-Lied „Das himmlische Leben“ endet, dazu bewogen, auch ein Orchesterlied zu schreiben, eine Vertonung von Joseph von Eichendorffs „Abendständchen“. Und wie Mahler durch Anklänge an Kinderlieder und durch das Bild des Schlaraffenlandes eine Art vermeintliche Naivität erschafft, taucht auch „mein“ schlichtes Abendständchen in eine weit entrückte Sehnsuchtswelt ein.
Je näher eine Aufführung rückt, umso mehr wird aus dem „Allein“ auch ganz konkret ein „Zusammen“. Die Gespräche mit GMD Simon Gaudenz intensivieren sich, wir tauschen uns telefonisch über den allgemeinen Charakter der neuen Komposition aus, wir diskutieren Klangfarben, Klippen, Besonderheiten und Details.
Dann kommt der Moment der Probe. Jena statt Basel, der üppig schöne Saal des Volkshauses statt meines Arbeitszimmers, Simon Gaudenz, die Jenaer Philharmonie – man findet zusammen und endlich erklingt das still Erdachte zum ersten Mal. Es ist vielleicht einer der faszinierendsten und auch aufregendsten Aspekte des Komponisten-Berufs, diesen Übergang zu erleben: Dass sich der „Fliegendreck“ der Noten, dieses eng bedruckte Gittersystem der Partitur, durch ein Kollektiv von Musikerinnen und Musikern in ein unsichtbares, vergängliches, mal donnernd lautes, mal ätherisch feines Klang-Gewebe verwandelt; dass abstrakte Anweisungen aus Punkten, Strichen und Linien ein Orchester interagieren lassen wie eine komplexe Hochleistungsmaschine, präzise, sekundenbruchteilgenau und zugleich atmend und beseelt wie ein Lebewesen.
Im vielfältigen Zusammenspiel der Instrumente, im Wechsel von Solo zu Tutti offenbart sich, wie sehr „allein“ und „zusammen“ sich gegenseitig bedingen. Aber erst im Konzert, erst im Gemeinschaftserlebnis der Aufführung erfahren alle diese Anstrengungen ihren höheren Sinn. Die Musik braucht das Ohr, ohne das sie ein Zeichen wäre, (be)deutungslos.
Das Mahler-Scartazzini-Projekt wird von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert. Die Uraufführungen Scartazzinis zu den ersten beiden Mahler-Sinfonien waren gemeinsame Kompositionsaufträge der Jenaer Philharmonie und des Berner Symphonieorchesters sowie des Sinfonieorchesters Basel. Scartazzinis Werk zu Mahlers dritter Sinfonie wurde gemeinsam mit der Neubrandenburger Philharmonie, sein Werk zur vierten Sinfonie zusammen mit der Philharmonie Südwestfalen in Auftrag gegeben. Die Werke von Andrea Scartazzini erscheinen im Bärenreiter-Verlag.
Spielzeit 2019.2020
Der Mahler-Scartazzini-Zyklus wird fortgesetzt.
Eine neue Welt aufbauen
In der Spielzeit 2019.2020 ! vokal ! erklingen die dritte und vierte Sinfonie Mahlers, zu denen der COMPOSER IN RESIDENCE, Andrea Lorenzo Scartazzini, weitere, ergänzende Werke komponieren wird.
Der Zyklus findet nicht nur in Jena sondern auch in der internationalen Musikszene großes Interesse, die Zahl der Anfragen für Gastspiele der Jenaer Philharmonie mit ihren Mahler-Scartazzini-Programmen wächst stetig. Einer der Höhepunkte der kommenden Spielzeit ist sicher die Einladung zu den Gustav-Mahler-Festwochen Toblach, wo die Jenaer Philharmonie am 18. Juli 2020 mit Mahlers erster Sinfonie und Scartazzinis „Torso“ zu Gast sein wird.
Die Korrespondenz zwischen Andrea Scartazzini und Generalmusikdirektor Simon Gaudenz gibt einen Einblick in den Arbeitsprozess und dokumentiert den Entstehungsprozess dieser Kompositionen, die – um es mit Mahlers eigenen Worte zu sagen – versuchen, „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine neue Welt aufzubauen“.
27. Januar 2019, 20:17 Uhr
Lieber Simon
Wie du weißt, konnte ich das Stück zur zweiten Mahler-Sinfonie bereits vor Weihnachten abschließen. Es hat allerdings etwas gedauert, bis ich gestern mit der Reinschrift fertig geworden bin, aber nun ist sie da! Morgen gehe ich zum Copy-Shop, scanne das Manuskript und schicke es dem Bärenreiter-Verlag zur Digitalisierung. Selbstverständlich werde ich die Scans für einen ersten Eindruck auch dir per Wetransfer weiterleiten. Vorab schon einmal ein paar Hinweise: Das Stück beginnt nicht bei Null, sondern es setzt gleichsam auf dem Höhepunkt des Vorgängerstücks „Torso“ ein. Die letzten paar ruhigen Takte von „Torso“ mit dem Übergang zu Mahler 1 fallen weg, so dass es im Moment des größten Energieschubs direkt weitergeht und die Kraft, die sich in der langen Steigerung von „Torso“ aufgebaut hat, nun vollends entfaltet wird. Der Name diese zweiten Stücks des Zyklus heißt übrigens „Epitaph“, also das griechische Wort für „Grabinschrift“. Dies als Bezugnahme auf Mahlers „Auferstehungssinfonie“ und vor allem auf deren 1. Satz, den Mahler ja selbst als „Todtenfeier“ bezeichnet hat. Am Schluss der Komposition gibts eine Überraschung. Rate mal, welche? (Du selbst hast mich drauf gebracht).
Herzlich Andrea
Andrea Lorenzo Scartazzini und Simon Gaudenz, Foto: Lucia Hunziker
»Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.«
GUSTAV MAHLER
28. Januar 2019, 09:23 Uhr
Lieber Andrea,
Ich weiß, worauf Du anspielst ...! Nachdem Du Dich in TORSO von meinem Wunsch nach Fernmusik inspirieren ließest, hast Du nun wahrscheinlich tatsächlich den Chor eingesetzt? Mahler selbst wollte doch „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“, und nun nutzt Du sie auch. Wunderbar! Finden sich wieder solistische Besonderheiten wie die Trompeten im ersten Stück? Mittlerweile hast Du ja einen genauen Eindruck vom Orchester und seinen MusikerInnen, diese Erfahrung wird wahrscheinlich einen Einfluss auf die Klangvorstellung Deiner zukünftigen Werke ausüben. Spielt auch der Saal des Volkshauses mit seiner Atmosphäre und Akustik eine Rolle? Bin gespannt!
Liebe Grüße, Dein Simon
1. Februar 2019, 14:45 Uhr
Lieber Simon
Du hast’s erraten. Kurz vor dem Ende des Stücks, am Übergang zu Mahler, setzt der Chor ein. Bezüglich Text bin ich wieder bei Rilke fündig geworden, der mir ja schon einen wichtigen Anstoß für „Torso“ gegeben hat. Es sind knappe Verse, die inhaltlich aber ausgezeichnet zur zweiten Sinfonie von Mahler passen. Und in seiner Kürze hat das Gedicht etwas von einer (Grab-)Inschrift, weshalb ich den Titel „Epitaph“ gewählt habe.
Das Gedicht lautet:
Denn wir sind nur die Schale und das Blatt. Der große Tod, den jeder in sich hat, das ist die Frucht, um die sich alles dreht.
Schön, nicht wahr?! Und gleichzeitig ist es auch unheimlich. Jedenfalls bin ich ganz glücklich, es gefunden zu haben.
Simon Gaudenz und Andrea Lorenzo Scartazzini, Foto: Lucia Hunziker
Was deine Frage nach solistischen Besonderheiten angeht: Ja, es gibt ein längeres Cello-Solo, das dann in die Chorstelle mündet. Das Solo ist von aufbegehrendem Charakter, als wehrte es sich gegen die Unabänderlichkeit des Todes, bis es schließlich resigniert. Das Solo zu schreiben war mir wichtig. Ich denke, es ist mit seinen vielen weit gespannten Doppelgriffen anspruchsvoll zu spielen, fast eine Art Abmühen am Instrument, so wie sich der einzelne Mensch auch an diesen großen Fragen abmüht. Was denkst du, soll ich es, bevor es gedruckt wird, eurer Solo-Cellistin vorlegen, damit sie es mal durchgehen und allenfalls Änderungen vorschlagen kann? Den Saal und die Akustik habe ich sehr geschätzt, es ist ein prächtiger und festlicher Saal, und es ist schön zu wissen, dass die Stücke dort gespielt werden. Allerdings habe ich diesmal keine Raum-Musik konzipiert. Und was das Orchester angeht: Wie du weißt, hatte ich einen sehr positiven Eindruck, und das motiviert mich natürlich. Je besser ich die MusikerInnen kennenlerne, umso konkreter wird der Einfluss auf die Klangvorstellung werden.
Hab einen schönen Tag, herzlich! Dein Andrea
»Den Saal und die Akustik des Volkshauses habe ich sehr geschätzt, es ist ein prächtiger und festlicher Saal, und es ist schön zu wissen, dass die Stücke dort gespielt werden.«
ANDREA LORENZO SCARTAZZINI
Andrea Lorenzo Scartazzini und Simon Gaudenz, Foto: Lucia Hunziker
4. Februar 2019, 21:02 Uhr
Lieber Andrea,
In direktem Kontakt mit dem Komponisten zu stehen, wird mit Sicherheit geschätzt. Ich finde auch schön, dass Du Dich persönlich mit unseren Musikern beschäftigst, nicht nur mit den Instrumenten. Also schreibe Henriette Lätsch am besten gleich persönlich an, sie wird sich freuen. Übrigens, wieder ein schönes Gedicht und daraus folgend eine Frage, die gerade in mir auftaucht: wie manifestiert sich konkret, dass Dir so ein Gedicht Inspiration für die Komposition gibt? Lässt sich das beschreiben?
Herzlich, Dein Simon
4. Februar 2019, 22:37 Uhr
Lieber Simon
In diesem Fall war mir schon klar, wie die Musik klingen soll. Ich habe also kein Gedicht gesucht, um mich davon inspirieren zu lassen, sondern einen Text, der das (mit)ausdrückt, was in der Musik angelegt ist. Und schliesslich bin ich dann auf diese drei Rilke-Verse gestoßen, welche so lapidar die hintergründige Präsenz des Todes in allem Leben evozieren. Manchmal funktioniert es natürlich aber auch umgekehrt: Da wird dir ein Text zu einem Gegenüber, das dich führt und Anstöße gibt. Und das Musik in dir ausl.st, die du so sonst nicht schreiben würdest.
Liebe Grüße und gute Nacht! Dein Andrea
Andrea Lorenzo Scartazzini und Simon Gaudenz, Foto: Lucia Hunziker
»Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten.«
GUSTAV MAHLER
11. Februar 2019, 12:49 Uhr
Lass uns vor dem Hintergrund Deiner Antwort einen Blick in die Zukunft werfen, lieber Andrea:
Wird auch in den nächsten Werken das Wort einen – wie auch immer definierten – Anteil haben? Die kommenden Mahler-Sinfonien würden sich mit ihrem vokalen Schwerpunkt ja geradezu dafür anbieten. Wobei, unserem Publikum wird sich die Musik auch ohne den Text erschließen, denn es gilt ohnehin: „Das Beste in der Musik steht nicht in den Noten“ (Mahler). Du wirst in Jena nun mehr und mehr ein Komponist zum Anfassen! Die Menschen hören Deine Musik immer und immer wieder, und so entwickelt sich eine Vertrautheit. Mir ist dieser Bezug sehr wichtig, und ich bin Dir für jeden Anstoß dankbar, der mich und unser Orchester, Dich und Deine Musik noch enger mit den Jenaern und Jenensern, für die wir ja musizieren, verbindet.
Alles Liebe, Simon
13. Februar 2019, 18:05 Uhr
Lieber Simon
Es läge tatsächlich nah, im dritten und vierten Stück das Vokale einzubeziehen, weil Mahler es auch einsetzt. Allerdings habe ich den Ablauf dieser Stücke vorerst ohne Singstimme oder Chor geplant. Lass mich mal weitergrübeln und schauen, ob die weitere Entwicklung doch plötzlich danach verlangt. Ja, die Verbindung zum Jenaer Publikum wird mit jedem Anlass stärker werden und auch die Möglichkeit geben, sich kennenzulernen und auszutauschen. Ich freue mich drauf!
Herzlich, Andrea
Simon Gaudenz und Andrea Lorenzo Scartazzini, Foto: Lucia Hunziker
Der Mahler-Scartazzini-Projekt wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestags und der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert. Die Uraufführungen Scartazzinis zu den ersten beiden Mahler-Sinfonien waren gemeinsame Kompositionsaufträge der Jenaer Philharmonie und des Berner Symphonieorchesters sowie des Sinfonieorchesters Basel. Scartazzinis Werk zu Mahlers dritter Sinfonie ist nun gemeinsam mit der Neubrandenburger Philharmonie, sein Werk zur vierten Sinfonie zusammen mit der Philharmonie Südwestfalen in Auftrag gegeben worden. Die Werke von Andrea Scartazzini erscheinen im Bärenreiter-Verlag.
Spielzeit 2018.2019
Ein Mahler-Scartazzini-Zyklus
»Wir wollen etwas schaffen, das bleibt.«
Simon Gaudenz, Foto: Lucia Hunziker
Simon Gaudenz, neuer Generalmusikdirektor der Jenaer Philharmonie, kündigte mit diesen Worten das großartige Projekt an, Sinfonien Gustav Mahlers mit eigens für die Jenaer Philharmonie geschaffenen Arbeiten des international renommierten Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini zu kombinieren.
Damit beginnt der Auftakt von Simon Gaudenz in Jena mit einem Paukenschlag. Denn Scartazzini wird als Composer in Residence exklusiv den ganzen Zyklus begleiten und neue Stücke komponieren, die sich thematisch auf Mahler beziehen. Dadurch werden Mahlers Werke in neuem Licht erscheinen und durch unendlich viele neue Facetten bereichert.
Gustav Mahler und Andrea Lorenzo Scartazzini verbindet ihre emotionale Tonsprache, obgleich sie über 100 Jahre an Lebenszeit trennen. Mahler, 1860 in Böhmen geboren, ist einer der bedeutendsten Komponisten der Spätromantik. Seine Werke waren wegweisend für die Vertreter der Zweiten Wiener Schule und Wegbereiter der Neuen Musik.
Mahler war auf der Suche nach der Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmittel. Er brach die traditionelle Form der Sinfonie auf und schuf groß angelegte Werke, in denen er die Tonsprache erweiterte, ohne auf die Tonalität zu verzichten. Er bezog damals als niedere Kunst geltende Weisen wie Kaffeehauslieder und slawische Volksmusik ebenso in seine Kompositionen ein wie militärische Marschmusiken und Trauermärsche. In stilisierten Naturlauten spiegelt sich Mahlers große Liebe zur Natur wider, aus der er viel Kraft und Inspiration schöpfte. Ein Volksliedton prägt viele seiner Themen. Mahler wollte nicht nur Musik schaffen, sondern den ganzen Kosmos gestalten. Oder wie er es mit seinen eigenen Worten ausdrückte: „Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.“ Zu seinen Lebzeiten war Mahler einer der berühmtesten Dirigenten, und in Personalunion als Regisseur und Dirigent setzte er in seiner langjährigen Stellung als Direktor der Hofoper in Wien erstmals so etwas wie ein modernes Regietheater um.
Eine eigene Oper hat Gustav Mahler nicht geschrieben, wohingegen dieses Genre den bisherigen Schwerpunkt des kompositorischen Schaffens von Andrea Lorenzo Scartazzini bildet.
Gustav Mahler, Foto: Moritz Nähr
Andrea Lorenzo Scartazzini, Foto: Janis Huber
Scartazzini, geboren 1971 in Basel, ist ein mehrfach ausgezeichneter Komponist der jüngeren Generation. Zu seinen Preisen zählen der Studienpreis der Ernst von Siemens Stiftung München, der Jacob- Burckhardt-Preis der Goethe- Stiftung Basel sowie der Alexander Clavel-Preis Riehen.
Seine Stücke werden an bedeutenden Festivals (u. a. Salzburger Osterfestspiele, Lucerne Festival, Internationale Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt, Prager Premieren), an renommierten Häusern (Deutsche Oper Berlin, Theater Basel) durch namhafte Ensembles und Orchester aufgeführt (u. a. Ensemble Intercontemporain, Collegium Novum Zürich, Kammerorchester Basel).
Die Tonsprache Andrea Lorenzo Scartazzinis und Gustav Mahlers ist sehr farbig, bildgewaltig, sinnlich, dicht, unmittelbar, von aufwühlender Emotionalität. Beide schätzen das Gesangliche in der Musik und inkorporieren es immer wieder in unterschiedlichster Art und Weise in ihre Kompositionen – beste Voraussetzungen für die drei Jenaer Sängerensembles. Scartazzini ist ein kongenialer Partner, um mit Mahlers dramatischer, vielschichtiger Musik heute in Kontakt zu treten.
Die Kompositionen, die Andrea Lorenzo Scartazzini für Jena schreiben wird, beziehen sich auf die aufgeführten Sinfonien Gustav Mahlers und werden an den jeweiligen Konzertabenden von der Philharmonie Jena uraufgeführt. Gleichzeitig sind Scartazzinis Kompositionen eigenständige Werke, die unabhängig vonden Mahlerschen Kompositionen aufgeführt werden können. Mit jeder Aufführung einer Sinfonie von Mahler wächst Scartazzinis Werk, bis daraus ein einziges groß angelegtes Orchesterstück entsteht. Alle Kompositionen zusammen können zukünftig entweder als eigenständiges, zusammenhängendes, mehrsätziges Werk aufgeführt werden oder in kleineren Versatzstücken. Damit trägt Scartazzini der Jetztzeit, der Modernität Rechnung, die vom Menschen größte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an sich stetig verändernde Situationen fordert.
Andrea Lorenzo Scartazzini äußerte sich zu seiner Kompositionsweise wie folgt:
Zum Werk Gustav Mahlers hege ich eine tiefe Liebe, seine Symphonien sind tönende Gefährten seit vielen Jahren und bei jedem Wiederhören bin ich ergriffen von der schieren Fülle an Inspiration und Emotionalität. Ich werde mich an diesem Kosmos nicht abarbeiten, werde nichts zitieren oder kommentieren, wozu auch! Aber ich werde mit Lust auf die illustre Nachbarschaft reagieren, mich abgrenzen oder annähern im Sinne einer übergeordneten Dramaturgie. So soll beides gelingen: das Eigene schaffen und die Brücke schlagen.
»Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.«
JEAN JAURÈS
Der Mahler-Scartazzini-Zyklus endet nicht bei der einmaligen Idee, Sinfonien Mahlers ein modernes Pendant mit neuen Werken von Scartazzini gegenüberzustellen. Nein, dieses Projekt setzt sich in Workshops, Treffen mit dem Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini und dem neuen Generalmusikdirektor Simon Gaudenz, in Podiumsdiskussionen, mit Besuchen bei Schülern in der Schule und vielen weiteren Aktionen fort.
Nehmen auch Sie an diesem einzigartigen Projekt teil! Wir freuen uns auf Sie.
Das Mahler-Scartazzini-Projekt wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages sowie von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia gefördert. Zu den Kooperationspartnern zählt u. a. der Bärenreiter-Verlag Kassel.